Ich glaube, europäische Aktien stellen als Anlageklasse für 2021 die größte Chance dar. Als Portfoliomanager für europäische Aktien ist es mein Job, mich innerhalb Europas zu bewegen und nach besten Kräften Aktien in der Region auszuwählen. Doch bevor wir zur Einzeltitelauswahl kommen, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Anlageklasse selbst 2021 hervorragende Chancen bietet. Worin bestehen diese Chancen? Sie bestehen in der möglichen Aussicht auf eine Outperformance der Anlageklasse.
Wie könnte die europäische Value-Neigung der Anlageklasse 2021 nutzen?
Diese Aussicht war über geraume Zeit sehr unwahrscheinlich, weil in Europa Value-Werte stärker vertreten sind und die starke Performance im letzten Jahrzehnt von den Wachstumswerten – vor allem in den USA, z.B. im Nasdaq, S&P 500 und Dow Jones – kam. Ich glaube aber, dass die geldpolitische, fiskalische und geopolitische Reaktion auf die Covid-Pandemie dieses Narrativ grundlegend verändern wird. Wir haben bereits gesehen, dass sich das Blatt wendet und nach fast einem Jahrzehnt Value wieder im Kommen ist – und ich sehe nicht, dass das aufhören wird. Meiner Meinung nach sind alle Zutaten für eine Outperformance europäischer und vielleicht auch japanischer Aktien vorhanden. Das könnte eine hervorragende Chance für die Anlagenklasse sein.
Eine Gefahr wären schwache Inflationserwartungen
Das größte Risiko für diese These ist in meinen Augen etwas, das jede dauerhafte Erholung des Value-Segments zum Entgleisen bringen könnte. Die größte Gefahr kommt meines Erachtens in Gestalt eines anhaltend deflationären, disinflationären Umfelds daher. Wir sind fest davon überzeugt, dass eine Value-Rally, um erfolgreich zu sein, mit einer makroökonomischen Veränderung einhergehen muss: einem Anstieg der Inflationserwartungen. Ein fortgesetzt deflationäres Umfeld würde Gegenwind für Value-Aktien bedeuten, und europäische Aktien hätten dann keine guten Aussichten auf eine Outperformance gegenüber den Outperformern des letzten Jahrzehnts: US-Aktien. Es besteht die Gefahr, dass diese Trendwende von Value zu Growth nicht von Dauer ist, weil die Inflationserwartungen nicht steigen. Ich denke aber, dass dies nicht der Fall sein wird.
Für mich lautet die größte Frage für 2021: Wird Value dauerhaft Growth übertreffen? Bejaht man diese Frage, so verlässt man sich darauf, dass die Inflation steigt. Das allerwichtigste Thema für europäische Aktien in 2021 werden deshalb aus meiner Sicht die Inflationserwartungen und infolgedessen die Anleiherenditekurve sein. Weiter sinkende Renditen auf deutsche Bundesanleihen wären nicht im Interesse von Value-Aktien, und ich glaube, dass sich die Renditekurve vor dem aktuellen makroökonomischen Hintergrund normalisieren und leicht, aber nicht unbedingt dramatisch, versteilern kann.
Belege für einen Wirtschaftsaufschwung
Ich gehe zudem davon aus, dass wir nach einer langen Phase gedämpfter Konjunktur aufgrund der Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung von COVID-19 einen kräftigen Aufschwung erleben werden. Tatsächlich gibt es in der Industrie schon Zeichen für einen Aufschwung, und angesichts steigender Sparquoten bei den Verbrauchern allerorten ist es nur eine Frage der Zeit, bis dieser Aufschwung auch bei den Verbrauchern durchschlägt. Viele Menschen brennen darauf, rauszukommen, zu reisen, Spaß zu haben, und wenn es soweit ist, dürften wir einen Wirtschaftsboom erleben. Wenn sich dieser Boom als ein inflationärer erweist oder auch nur die Inflationserwartungen etwas steigen, wird dies einen großen Einfluss auf die Aktienpräferenzen der Anleger haben, und wenn ich richtig liege, wird dann Value nachgefragt werden.
Glossar
Value-Aktien – Aktien eines Unternehmen, das im Verhältnis zu seinen fundamentalen Kennzahlen zu einem niedrigeren Preis gehandelt wird und daher vom Markt als unterbewertet wahrgenommen wird.
Growth-Aktien – Aktien eines Unternehmens, von dem Anleger erwarten, dass es viel stärker wachsen wird als der Marktdurchschnitt.
Geldpolitik – Maßnahmen, mit denen Zentralbanken Inflation und Wirtschaftswachstum beeinflussen. Hierzu zählt die Steuerung der Zinssätze und der Geldmenge.
Fiskalpolitik– Die Politik einer Regierung, anhand derer Steuersätze und Ausgaben festgelegt werden.
Deflation/Disinflation – Rückgang der Preise für Waren und Dienstleistungen in einer Volkswirtschaft, in der Regel ein Anzeichen für eine wirtschaftliche Abkühlung. Das Gegenteil von Inflation. Disinflation ist ein Rückgang der Inflationsraten.
Inflationserwartungen – Erwartungen hinsichtlich der zukünftigen Inflationsentwicklung.
Renditekurve – Ein Diagramm, das die Renditen von Anleihen ähnlicher Qualität im Verhältnis zu ihren Laufzeiten darstellt. Bei einer normalen/aufwärts geneigten Zinsstrukturkurve sind die Renditen von Anleihen mit längeren Laufzeiten höher als die Renditen kurzfristiger Anleihen. Eine Renditekurve kann die Erwartungen des Marktes über die wirtschaftliche Richtung eines Landes signalisieren.