Für qualifizierte Anleger in der Schweiz

ESG-Investmentausblick 2023: Segeln durch raue Gewässer

Anlageprodukte, die ESG (Umwelt, Gesellschaft, Unternehmensführung) berücksichtigen, haben 2022 in einem unruhigen Makroumfeld weitgehend schlechter abgeschnitten als Produkte ohne ESG-Integration. Die Underperformance hat zur Folge, dass sich nun viele fragen, ob ESG überhaupt noch zukunftsweisend ist. Paul LaCoursiere und Bhaskar Sastry erläutern drei wesentliche Gründe, warum ESG für Anleger weiterhin eine zentrale Rolle spielen wird.

Bhaskar Sastry, CFA

Bhaskar Sastry, CFA

ESG Content Manager


29. Nov. 2022
16 Minuten Lesezeit

Zentrale Erkenntnisse:

  • Die Energiekrise könnte als Katalysator für den Übergang zu preisgünstigen, sicheren und sauberen erneuerbaren Energien dienen. Dennoch werden fossile Brennstoffe auf absehbare Zeit nicht ganz verschwinden.
  • Anleger sollten davon ausgehen, dass die einzelnen Regionen, vor allem Europa und die USA, unterschiedliche Wege einschlagen werden, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Eine auf allen Seiten offene und ehrliche Debatte wird entscheidend sein.
  • Wir gehen davon aus, dass sich der Verlust der biologischen Vielfalt nach dem Klimawandel zum zweitwichtigsten Nachhaltigkeitsproblem entwickeln wird.

Ich gehe in meiner Freizeit sehr gerne segeln. Bei klarem Wetter ist das pure Entspannung, doch wenn der Wind auffrischt und die Wellen höherschlagen, kann es schnell ungemütlich werden. Wer bei Geldanlagen auf Nachhaltigkeit setzt, begibt sich auf eine ähnlich unvorhersehbare Reise – und das dürfte sich 2023 kaum ändern. – Paul LaCoursiere

Thema #1: Die Energiewende wird durch die geopolitische Unsicherheit beschleunigt, braucht aber ihre Zeit.

Der russisch-ukrainische Konflikt hat weltweit eine Energiekrise verursacht, die uns unmissverständlich vor Augen hält, wie eng die globalen Volkswirtschaften miteinander verflochten und von fossilen Brennstoffen abhängig sind. Im Zusammenspiel mit der Coronapandemie hat der Konflikt eine deutliche Verlangsamung der globalen Wirtschaft, einen Anstieg der Inflation auf den höchsten Stand seit Jahrzehnten und eine Verschärfung der Nahrungsmittelkrise in den Entwicklungsländern ausgelöst. Die Regierungen reagieren darauf mit teuren Energierettungspaketen und Preisobergrenzen, die die ohnehin angeschlagenen Staatshaushalte zusätzlich belasten.

Die aktuelle Krise macht mehr als deutlich, dass wir in einem Energie-Trilemma stecken: Wie können Sicherheit, Erschwinglichkeit und Nachhaltigkeit unserer Energieversorgung gewährleistet werden? Momentan stellen viele Länder klar die Sicherheit und Erschwinglichkeit auf Kosten der Nachhaltigkeit in den Vordergrund und konzentrieren sich darauf, die fossilen Energiereserven aufzufüllen. Klar ist, dass wir in der aktuellen Situation nicht auf fossile Brennstoffe verzichten können – und sollten.

Mit der Fortführung einer auf fossilen Brennstoffen basierenden Wirtschaft schaffen wir es jedoch weder für Energiesicherheit zu sorgen noch die Klimakrise zu lösen. Albert Einstein hat es so formuliert: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Wir gehen deshalb davon aus, dass die Regierungen ab 2023 längerfristige Strategien beschließen, mit denen Investitionen in erneuerbare Energien gefördert werden, um das Energie-Trilemma aufzulösen und einen „gerechten Übergang“ sicherzustellen, bei dem viele von der Umstellung auf eine grüne Wirtschaft profitieren, während zugleich diejenigen unterstützt werden, denen wirtschaftliche Einbußen drohen.

ESG-Investmentausblick Energiesicherheit

Energiesicherheit

Das Jahr 2022 hat uns mehr als deutlich vor Augen geführt, wie verwundbar Öl- und Gasimporteure bei stark schwankenden Preisen sind, die nicht nur von der globalen Geopolitik und Makroökonomie, sondern auch von einer künstlichen Preisgestaltung beeinflusst werden. Viele Länder der Europäischen Union (EU) sind durch den russisch-ukrainischen Konflikt verletzlich geworden, da sie sich in der Vergangenheit zu sehr von russischem Gas und Öl abhängig gemacht und zu wenig in alternative Energiequellen investiert haben. Bis vor einigen Monaten hat Europa noch 45 % seines Gases, 44 % seiner Kohle und 25 % seines Öls aus Russland importiert.1. Nun hat die EU in Reaktion auf den russischen Einmarsch in ihrem REPowerEU-Plan Vorschläge skizziert, um den Anteil erneuerbarer Energien auf 45 % des Energiemixes zu erhöhen und 13 % des Energieverbrauchs durch Effizienzsteigerungen einzusparen. Diese Pläne werden von den Menschen in der EU unterstützt: 85 % von ihnen glauben, dass sich die EU von russischem Öl und Gas unabhängiger machen sollte2. In den USA hat die Biden-Regierung derweil den bahnbrechenden „Inflation Reduction Act“ verabschiedet, mit dem 369 Milliarden US-Dollar für saubere Energie- und Dekarbonisierungsprojekte sowie eine steuerliche Förderung sauberer Energie bereitgestellt werden, mit dem Ziel, die CO₂-Emissionen der USA bis 2030 um etwa 40 % zu senken.

In dem Maße, in dem die politischen Entscheidungsträger erkennen, dass die Energiepreise dauerhaft hoch bleiben und großflächige Stromausfälle drohen, gewinnen die Argumente für (netzabhängige und netzunabhängige) erneuerbare Energien, die saubere, dezentrale Energie liefern, enorme Unterstützung.

Schätzungen zufolge liegen die Investitionen in erneuerbare Energien im Jahr 2022 bei 500 Milliarden US-Dollar und somit erstmals höher als die Investitionen in Öl und Gas. Carbon Tracker, eine Denkfabrik, die die Auswirkungen des Klimawandels auf die Finanzmärkte erforscht, prognostiziert, dass Solar- und Windkraft bis Mitte der 2030er Jahre den gesamten Stromverbrauch der Welt decken und bis 2050 die fossilen Brennstoffe als Energiequellen ablösen könnten.

Doch die Umstellung braucht Zeit. Der Ausbau erneuerbarer Energien – ob aus Sonnen-, Wind- oder Wasserkraft – wird nicht nur Jahre dauern, sondern auch hohe Investitionen erfordern – auch wenn die späteren Betriebskosten sehr niedrig sind. Die Deckung der Grundlast über längere Zeiträume erfordert zudem Verbesserungen der Netzzuverlässigkeit und der Batteriespeicherung, die jedoch bereits Fahrt aufnehmen.

Wie es funktionieren kann, hat zuletzt Griechenland vorgemacht, dem es gelungen ist, sich im Oktober 2022 fünf Stunden lang ausschließlich mit Solar-, Wind- und Wasserkraftstrom zu versorgen. Daran wird deutlich, was möglich ist. Griechenland will den Anteil erneuerbarer Energien an seinem Energiemix bis 2030 auf mindestens 70 % steigern, und wir erwarten ab 2023 mehr solcher Erfolgsgeschichten.

Erschwinglichkeit von Energie

Dank technologischer Entwicklungen, Konstruktionsverbesserungen und Skaleneffekten werden erneuerbare Energien von Jahr zu Jahr preisgünstiger (siehe Abbildung 1). Der Internationalen Agentur für erneuerbare Energien (IRENA) zufolge lagen 2021 die gewichteten durchschnittlichen Stromgestehungskosten (d. h. die durchschnittlichen Kosten pro erzeugter Megawattstunde Strom während der gesamten Nutzungsdauer der Anlage) bei neuen industriellen Photovoltaik- und Wasserkraftanlagen um 11 % und bei Onshore-Windkraftanlagen um 39 % unter denen der günstigsten fossil befeuerten Energieträger.

Darüber hinaus haben Forscher der Universität Oxford festgestellt, dass im Vergleich zur Fortführung eines Systems, das auf fossilen Brennstoffen basiert, „eine rasche Umstellung auf grüne Energie zu Nettoeinsparungen in Höhe von mehreren Billionen Dollar führen dürfte“. Untersuchungen der Royal Society of Chemistry zeigen, dass Wind-, Wasser- und Photovoltaikanlagen weniger energieintensiv sind, weniger kosten und mehr Arbeitsplätze schaffen könnten als fossil betriebene Kraftwerke. Dies sind ermutigende Entwicklungen – nicht zuletzt für die armen und benachteiligten Bevölkerungsgruppen in den Entwicklungsländern, die bislang keinerlei Zugang zu Strom haben.

Abbildung 1: Erneuerbare Energien werden billiger und unterstützen den Übergang zu Netto-Null

ESG-Investmentausblick Abbildung 1 ESG-Ausblick

Quelle: Internationale Agentur für erneuerbare Energien, 2022.

Anlagen für erneuerbare Energien wie Wind- und Solarparks zeichnen sich durch relativ niedrige Betriebskosten und dauerhafte, stabile und inflationsgebundene Einnahmen aus. Damit sind sie gut positioniert, um in einem stagflationären Umfeld gute Ergebnisse zu erzielen. Nach Installation der Anlage sinken die Preise für erneuerbare Energien potenziell weiter. Dieser Kostenvorteil verschiebt die Dynamik klar zugunsten erneuerbarer Energien – was auch die Anleger zunehmend überzeugt.

Die Energiewende wird viele Regierungen allerdings vor Herausforderungen stellen. Denn es gilt, die Subventionen für eine auf fossilen Brennstoffen basierende Industrie deutlich herunterzufahren und die Vorlaufkosten für den Bau neuer Anlagen für die Erzeugung erneuerbarer Energien zu stemmen, anstatt weiter auf Gas zu setzen. Die schwankende Einspeisung durch erneuerbare Energien erfordert flexible Kraftwerke, die auf teures, umweltschädliches Gas umschalten können, wenn das Angebot an erneuerbaren Energien nicht ausreicht. Für die Übertragung erneuerbarer Energien müssen zudem die erforderlichen Infrastrukturen aufgebaut werden – was ebenfalls teuer ist und Zeit braucht. Nicht zuletzt bestehen auch strukturelle Hürden an den Strommärkten, darunter die Grenzkostenpreisbildung in Europa und Großbritannien, deren Reformierung manche fordern.

Um diese Herausforderungen zu bewältigen, braucht es starke Führung. Wir glauben, dass einige Regierungen weltweit beginnen werden, die Herausforderungen anzunehmen und im Jahr 2023 die notwendigen Maßnahmen umzusetzen.

ESG-Investmentausblick Nachhaltigkeit im Energiesektor

Nachhaltigkeit im Energiesektor

Das International Institute for Sustainable Development (IISD) hat erklärt, dass die Erschließung neuer Öl- und Gasfelder nicht mit dem 1,5-Grad-Ziel vereinbar ist und die weltweite Öl- und Gasförderung und der Verbrauch bis 2050 um mindestens 65 % sinken müssen. Daraus folgt, dass der Anteil, den erneuerbare Energien jeder Form (Wind, Sonne, Wasser, Biokraftstoffe, Kernkraft, grüner Wasserstoff und Erdwärme) am Energiemix ausmachen, voraussichtlich steigt.

Im Jahr 2021 beliefen sich die weltweiten Investitionen in die Energiewende, die auf die Dekarbonisierung der Volkswirtschaften abzielen, nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) auf mehr als 750 Milliarden US-Dollar, was 10 % der Energieinvestitionen entspricht. Dies ist bereits ein Plus von 27 % gegenüber 2020, das auf das Wachstum bei erneuerbaren Energien und bei der Elektromobilität zurückzuführen ist. Es wird erwartet, dass das Wachstum der Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energiequellen und der Elektrofahrzeuge den Anstieg der globalen Emissionen von 2021 bis 2022 auf weniger als 1 % begrenzen wird. Dies liegt deutlich unter dem Anstieg im Vorjahr – was bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, dass der Verbrauch fossiler Brennstoffe nach Ausbruch des russisch-ukrainischen Konflikts gestiegen ist.

Der Grund dafür liegt darin, dass sich der CO₂-Fußabdruck durch den Bau und die Inbetriebnahme von Infrastrukturen für erneuerbare Energien zunächst vergrößert (z. B. wegen des erforderlichen Abbaus von Metallen), die durchschnittlichen CO₂-Emissionen erneuerbarer Energien über die gesamte Lebensdauer der Anlagen hinweg jedoch wesentlich geringer sind (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Durchschnittliche CO2-Äquivalent-Emissionen während des gesamten Lebenszyklus

ESG-Investmentausblick Abbildung 2 Durchschnittliche CO2-Äquivalent-Emissionen während des gesamten Lebenszyklus

Quelle: Weltklimarat, 2014.

Bloomberg NEF schätzt, dass die jährlichen Investitionen in die Energiewende (d. h. die Ausgaben für die Einführung sauberer Technologien, einschließlich erneuerbarer Energien, Elektrofahrzeuge und CO₂-Abscheidung) von 2022 bis 2025 durchschnittlich 2,1 Billionen US-Dollar betragen und sich von 2026 bis 2030 auf 4,2 Billionen US-Dollar verdoppeln müssen, um Netto-Null zu erreichen.

Um die grüne Transformation zu schaffen, müssen sowohl die Regierungen als auch die Wirtschaft ihre Bemühungen beschleunigen. Die Regierungen können dies beispielsweise tun, indem sie sich zu einer „sauberen Zukunft“ verpflichten, Subventionen von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien umlenken und die Verwendung von Gas als Übergangsbrennstoff begrenzen. Die Unternehmen und Investoren können ihrerseits dazu beitragen, indem sie langfristiges Kapital in die Unterstützung der Energiewende und die grünen Industrien der Zukunft lenken.

Thema #2: In den USA dürfte sich die Polarisierung der Meinungen zu ESG weiter verschärfen

Wenn ich segle, muss ich mich oft entscheiden, ob ich die direkte oder eine längere, umständlichere Route nehme. Beim Klimaschutz scheint Europa den ersten und die USA den zweiten Weg einzuschlagen. – Paul LaCoursiere

In unserem letzten Ausblick haben wir die unterschiedlichen Sichtweisen der Unternehmensvorstände gegenüber ESG beschrieben und erörtert, inwiefern ESG und Finanzperformance miteinander verwoben sind. Bis 2022 gab es auch schon kleinere Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf ESG. Doch grundsätzlich wurden die Argumente, die für die Integration von ESG- und Klimaüberlegungen in den Anlageprozess sprechen, weitgehend nicht infrage gestellt.

2022 hat sich die Stimung gedreht. ESG-orientierte Fonds und Strategien, die in wachstumsstarke Technologiewerte investieren und Energieaktien untergewichten, haben in diesem Jahr weitgehend schlechter abgeschnitten als solche, die nicht auf ESG ausgerichtet sind. Viele stellen heute die Frage, welche Rolle ESG bei der Erfüllung der Treuhandpflicht spielt. Vor allem in den USA sind die Erwartungen an Unternehmen und Investoren, immer strengere ESG-Standards zu erfüllen, zunehmend gestiegen. Dies hat zunächst vereinzelt Unmut ausgelöst, der jedoch zunehmend in eine grundlegende Spaltung umschlägt.

In den USA sind es vor allem die Republikaner und rechte Gruppierungen, die ESG als linke Ideologie, als Instrument der globalen Eliten, als Bedrohung für die heimische fossile Brennstoffindustrie und letztlich als schädlich für die Anlagerenditen anprangern. Angesichts der Energiekrise wurde ESG auch schon als „Woke-Ideologie“ und „pervers“ diskreditiert.

So trennte sich der Finanzminister von Texas in diesem Jahr von fast 350 Fonds und 10 Vermögensverwaltern, die ESG fördern, während der Gouverneur von Florida eine Resolution verabschiedete, die es dem bundesstaatlichen Pensionsfonds bei Investitionsentscheidungen untersagt, ESG zu berücksichtigen. Mehrere andere Bundesstaaten sind dem floridianischen Beispiel bereits gefolgt.

Die Gegenbewegung schwappt zunehmend auch auf die Wirtschaft über. Eine der herausragenden Errungenschaften der COP26 im letzten November war die Gründung der Glasgow Financial Alliance for Net Zero (GFANZ), in der sich Finanzinstitute mit einem verwalteten Vermögen von über 150 Billionen US-Dollar zusammengeschlossen haben mit dem Ziel, bis zum Jahr 2050 Netto-Null zu erreichen. Unter dem Druck von Kunden der teilnehmenden Banken, die argumentierten, dass es gegen die Treuhandpflichten verstoße, wenn Vermögenswerten, die in Verbindung mit fossilen Brennstoffen stehen, veräußert werden, wurde die Anforderung, sich an die von den Vereinten Nationen unterstützte „Race to Net Zero“-Kampagne zu halten, bereits fallengelassen.

Indessen hat die Regierung unter Präsident Biden mit dem „Inflation Reduction Act“ ein ehrgeiziges Programm durchgesetzt, mit dem Investitionen in saubere Energien und deren Nutzung angekurbelt werden sollen.

ESG-Investmentausblick Wie geht es weiter?

Wie geht es weiter?

Wir glauben nicht, dass sich die Gräben zwischen den Befürwortern und den Skeptikern von ESG in absehbarer Zeit schließen werden. Stattdessen dürfte sich die Polarisierung im Jahr 2023 weiter verschärfen.

In unserem letzten Ausblick haben wir dazu aufgerufen, ESG realistisch und ehrlich zu diskutieren, unter anderem darüber, was ESG erreichen kann und was nicht. Heute gilt dies mehr denn je. Wir sind überzeugt, dass Übertreibungen fehl am Platz sind und es darauf ankommt, genau zu definieren, was ESG tatsächlich bedeutet.

Erstens ist ESG kein einheitlicher Ansatz, sondern ein Oberbegriff für eine Vielzahl von Strategien, von denen einige auf finanziell relevanten Kennzahlen und andere auf den Wertvorstellungen des Anlegers beruhen. ESG-Ansätze können einzeln oder kombiniert umgesetzt werden (z. B. Ausschluss-Screening und ESG-Integration). Wichtig ist, dass die Anleger die Merkmale des Produkts verstehen, in das sie investieren. Zweitens zeigt die Forschung, dass ESG-Risiken auch finanzielle Risiken darstellen. Daher können die Risiken und Chancen einer Investition umfassender bewertet werden, wenn ESG-Aspekte einbezogen werden. Nicht zuletzt sind ESG-Investments in den letzten Jahren enorm gewachsen, woran unter anderem deutlich wird, wie dringend es ist, existenzielle, systematische und nachhaltigkeitsbezogene Herausforderungen wie den Klimawandel und den Schutz unserer Umwelt zu bewältigen. Diese Herausforderungen werden sich nicht einfach in Luft auflösen.

Dennoch ist es mit Blick auf die hohen Energiepreise und drohende Stromausfälle verständlich, dass viele Anleger ESG neu priorisieren. Die zuletzt unterdurchschnittliche Performance von ESG-Fonds und -Strategien wirft die Frage auf, welche Rolle die Investmentbranche dabei spielt, die Energiesicherheit zu fördern und die Energiewende zu schaffen, um den Klimawandel zu bewältigen. All dies sind sensible Themen. Daher überrascht es uns nicht, dass die enorme Unsicherheit hitzige Debatten entfacht. Wie wir in unserem letzten Ausblick dargelegt haben, ist eine offene und ehrliche Debatte über die Rolle von ESG – ihre Stärken und Grenzen, aber auch erforderliche Kompromisslösungen – von entscheidender Bedeutung, insbesondere in dieser Zeit, in der die Meinungen zunehmend auseinanderdriften.

Auf den ersten Blick könnte man vor diesem Hintergrund erwarten, dass sich die Einführung von ESG-Investments in den USA verlangsamen wird. Jedoch zeigt eine neue Umfrage von PwC unter 250 globalen institutionellen Anlegern und Vermögensverwaltern mit einem Gesamtvermögen von 60 Billionen US-Dollar (knapp die Hälfte des weltweit verwalteten Vermögens), dass die Anleger mehr – und nicht weniger – ESG-Investitionen planen. Die Studie3 zeigt, dass sich das verwaltete ESG-Anlagevermögen in Nordamerika im Basisszenario der Wachstumsprognose von 2021 auf über 10,5 Billionen US-Dollar im Jahr 2026 mehr als verdoppeln dürfte (siehe Abbildung 3), wobei 81 % der institutionellen Anleger in den nächsten zwei Jahren eine höhere Allokation in ESG-Produkte planen.

Abbildung 3: Prognostiziertes Wachstum des global verwalteten ESG-Anlagevermögens (2021-2026)

ESG-Investmentausblick Abbildung 3 Prognostiziertes Wachstum des global verwalteten ESG-Anlagevermögens (2021-2026)

Quelle: „Asset and Wealth Management Revolution 2022: Exponential Expectations for ESG“, PwC, Oktober 2022. 

Der Bericht geht zudem davon aus, dass das in ESG-Produkten verwaltete Vermögen („ESG-AUM“) in Europa um 53 % auf 19,6 Billionen US-Dollar steigen wird. Dabei verzeichnet der asiatisch-pazifische Raum (APAC) das höchste erwartete Wachstum mit mehr als einer Verdreifachung des ESG-AUM auf 3,3 Billionen US-Dollar im Jahr 2026.

Der Ausgang der US-Zwischenwahlen wird für die weitere Entwicklung in Sachen Nachhaltigkeit von zentraler Bedeutung sein. Bei Redaktionsschluss haben die Demokraten die Kontrolle über den Senat gesichert, während die Republikaner voraussichtlich eine knappe Mehrheit im Repräsentantenhaus gewinnen. Die Ergebnisse könnten die künftige ESG-Gesetzgebung und die Umsetzung von ESG in den USA maßgeblich beeinflussen.

Thema #3: Die Anleger werden dem Verlust der Artenvielfalt hohe Priorität einräumen

Ich hatte das Glück, schon in der Karibik zu segeln. Als ich vor über 30 Jahren zum ersten Mal dorthin kam, konnte ich beim Schnorcheln die lebhaften, vielfarbigen Korallenriffe bewundern. Bedauerlicherweise sehen einige dieser Gebiete heute aus wie triste Friedhöfe. Korallen nehmen weniger als 0,1 % des Meeresbodens ein, beherbergen aber über 25 % des gesamten Meereslebens. Durch die Verschmutzung der Meere und den Klimawandel verwandeln sich diese einst so lebendigen Korallenriffe in öde Wildnis.
– Paul LaCoursiere

Die biologische Vielfalt ist die reiche Vielfalt des Lebens auf der Erde und die komplexe Art und Weise, wie Lebewesen und nicht lebende Einheiten wie Felsen und Erde zusammenwirken, um die natürliche Welt zu schaffen. Die Natur befindet sich heute in einer tiefen Krise, die unmittelbar von uns Menschen verursacht wurde und weiter beschleunigt wird. Wir gehen davon aus, dass sich der Verlust der biologischen Vielfalt nach dem Klimawandel zum zweitwichtigsten Nachhaltigkeitsproblem entwickeln wird.

ESG-Investmentausblick Die Anleger werden dem Verlust der Artenvielfalt hohe Priorität einräumen

Figure 4

Wir haben bereits früher über das Ausmaß des vom Menschen verursachten Verlusts an biologischer Vielfalt und der Schädigung der Ökosysteme geschrieben.ast 70 % der Tierarten sind in den letzten 50 Jahren verschwunden (siehe Abbildung 4), und eine Million Arten sind vom Aussterben in den kommenden Jahrzehnten bedroht.Angesichts dieser eindringlichen Warnungen sprechen Wissenschaftler heute von "biologischer Vernichtung“ und dem "Sechsten Massenaussterben“.

Abbildung 4: Rund 70 % der Wirbeltierarten sind seit 1970 ausgestorben

ESG-Investmentausblick Abbildung 4 Rund 70% der Wirbeltierarten sind seit 1970 ausgestorben

Quelle: WWF/ZSL – „WWF Living Planet Report 2022“. Der globale Living Planet-Index zeigt, dass eine Untergruppe bestehend aus 31.821 Beständen von 5.230 Wirbeltierarten zwischen 1970 und 2018 um durchschnittlich 69 % abgenommen hat. Die weiße Linie kennzeichnet die Indexwerte; die schattierten Bereiche beschreiben die statistische Sicherheit der Trend-Analyse: 95 %; Konfidenzintervall: Bereich 63 bis 75 %.

Für Anleger ist das wichtig. Denn die Natur erbringt enorme Leistungen für uns Menschen, deren monetärer Nutzen auf jährlich 44 Billionen US-Dollar taxiert wird (mehr als die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung) – und schafft existenzielle Voraussetzungen für unser Wohlbefinden. Das Funktionieren ganzer Wirtschaftszweige, nicht zuletzt der Lebensmittel- und Landwirtschaft, hängt wesentlich davon ab, dass unsere Umwelt intakt bleibt.

ESG-Investmentausblick Vorausschauend navigieren

Bisher haben Regierungen, Geschäftsführer und Anleger nur in begrenztem Umfang Maßnahmen zum Schutz der Natur ergriffen. Wir gehen jedoch davon aus, dass sich dies im Jahr 2023 aus drei wesentlichen Gründen ändern wird:

  • COP15 legt den Fahrplan fest: Nachdem sie wegen der Coronapandemie vier Mal verschoben werden musste, wird die COP15-Konferenz der Vereinten Nationen zur biologischen Vielfalt im Dezember 2022 in Montreal stattfinden, um den globalen Rahmen für die biologische Vielfalt nach 2020 zu verabschieden. Dieser Rahmen wird „eine strategische Vision und einen globalen Fahrplan für die Erhaltung, den Schutz, die Wiederherstellung und die nachhaltige Bewirtschaftung der biologischen Vielfalt und der Ökosysteme für das nächste Jahrzehnt“ festlegen. In Anbetracht der jüngsten Herausforderungen, insbesondere der Pandemie und der Energiekrise, die die Staatsfinanzen schwer belasten, erwarten wir keine bahnbrechenden Ankündigungen. Angesichts der Dringlichkeit gehen wir jedoch davon aus, dass sich die Länder auf ehrgeizigere, transparentere und zeitgebundene naturbezogene Ziele einigen und gemeinsam an der Erreichung der globalen Ziele arbeiten werden.
  • Entwicklung des TNFD-Rahmens: Die Taskforce for Nature-related Financial Disclosure (TNFD) ist eine globale, von der Industrie geführte Initiative von Unternehmen, Finanzinstituten und Finanzmittlern, ähnlich wie die Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD) für die Offenlegung von Klimadaten. Ihr Ziel ist es, die Einbeziehung naturbezogener Risiken und Chancen in die unternehmerische Entscheidungsfindung und die naturbezogene Finanzberichterstattung durch relevante regionale und branchenbezogene Messgrößen und Ziele zu fördern. Dies ist wichtig, denn Umfragen zufolge ist der Mangel an verfügbaren Daten und Messgrößen das größte Hindernis für Maßnahmen der Anleger zum Schutz der Artenvielfalt. Der endgültige Rahmen der TNFD soll im September 2023 veröffentlicht werden und könnte in bestimmten Ländern verbindlich vorgeschrieben werden.
  • Akzeptanz der Tatsache, dass Risiken im Zusammenhang mit der biologischen Vielfalt Anlagerisiken darstellen: Das Bewusstsein der Anleger wächst, dass der Verlust der biologischen Vielfalt auch finanzielle Risiken mit sich bringt, insbesondere in Sektoren wie der Lebensmittelindustrie, der Landwirtschaft oder dem Gesundheitswesen. In der gleichen Weise, wie der Verlust der Artenvielfalt mit dem Klimawandel interagiert und ihn verschärft, stellt er auch eine systemische Bedrohung dar. Aus diesem Grund haben die Organisatoren der COP27-Klimaverhandlungen einen Tag für die Diskussion dieses Themas vorgesehen. Wir erwarten, dass der Druck der Kunden auf die Vermögensverwalter, etwas gegen den Verlust der biologischen Vielfalt zu unternehmen, wachsen wird. So zeigt etwa eine Robeco-Umfrage unter 300 globalen Anlegern, dass 56 % von ihnen die biologische Vielfalt in den nächsten zwei Jahren in den Fokus ihrer Strategie rücken wollen, beispielsweise durch die Verwendung von Biodiversitäts-Metriken und -zielen in der Unternehmensanalyse, die Auseinandersetzung mit den Unternehmen mit Blick auf Biodiversitätsrisiken oder die Ausübung der Stimmrechte in Bezug auf naturbezogene Beschlüsse.

Vorausschauend navigieren

Die globalen Herausforderungen für ESG, allen voran der Klimawandel und der Verlust der biologischen Vielfalt, werden sich nicht einfach auflösen, sondern sich weiter verschärfen. Die Coronapandemie und der russisch-ukrainische Konflikt haben das Einkommensgefälle sowohl zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern als auch innerhalb der einzelnen Länder weiter vergrößert. Durch einen ganzheitlichen Investmentansatz, der diese Herausforderungen berücksichtigt, bietet ESG den Anlegern eine Möglichkeit, ihr Portfolio robuster aufzustellen und auf diese Herausforderungen zu reagieren.

Dennoch hat das ESG-Konzept im Jahr 2022 so etwas wie einen perfekten Sturm erlebt. ESG ist seit jeher ein zugängliches und umfassendes Paket von Überlegungen, die Anleger nutzen können, um die Merkmale ihrer Investition besser zu verstehen. Die jüngsten Ereignisse haben jedoch einige Nachteile aufgezeigt, darunter die Zusammenführung unterschiedlicher Aspekte wie CO₂-Intensität und Diversitätsmetriken und die Frage, wie (oder ob überhaupt) diese Metriken in einem einzigen Score zusammengefasst werden sollten. Im schlimmsten Fall hat die Komplexität dieser Themen den Eindruck entstehen lassen, dass es ESG an Transparenz mangelt.

Es ist klar, dass sich ESG anpassen und weiterentwickeln muss, um erfolgreich zu sein. Wir freuen uns auf eine offene und ehrliche Debatte von allen Seiten darüber, was ESG tatsächlich bedeutet, was ESG sinnvollerweise erreichen kann und warum ESG wichtig ist. Wir glauben, dass eine solche Debatte im Jahr 2023 und darüber hinaus konstruktive Ergebnisse hervorbringen wird.

1 London School of Economics and Political Science, April 2022.
2 Europäische Kommission, Mai 2022.
3 ‘Asset and Wealth Management Revolution 2022: Exponential expectations for ESG’, PwC, Oktober 2022

ESG-Integration bezeichnet die unverbindliche Einbeziehung von wesentlichen Umwelt-, Sozial- und Governance-Informationen oder -Erkenntnissen zusätzlich zu traditionellen Werten in den Anlageentscheidungsprozess, um die langfristigen finanziellen Ergebnisse von Portfolios zu verbessern. Dieses Produkt verfolgt weder eine nachhaltige Anlagestrategie noch ein nachhaltiges Anlageziel und nimmt keine verbindliche Berücksichtigung von ESG-Faktoren vor. Das ESG-Research ist einer von vielen Faktoren, die im Rahmen des Anlageprozesses berücksichtigt werden, und in diesem Beitrag versuchen wir zu zeigen, warum ESG auch finanziell relevant ist.
Gerechgter Übergang: Es soll sichergestellt werden, dass die beträchtlichen Vorteile des Übergangs auf eine grüne Wirtschaft möglichst vielen zugute kommen, während diejenigen unterstützt werden, die wirtschaftliche Einbußen hinnehmen müssen.
Stromgestehungskosten: durchschnittliche Kosten während der Lebensdauer der Anlage pro erzeugter Megawattstunde Strom. Beinhaltet die Kosten für den Bau, den Betrieb und die Stilllegung einer Standard-Anlage für jede Technologie.
Netto-Null bezieht sich darauf, dass die Produktion von Treibhausgasen durch das Entfernen von Treibhausgasen aus der Atmosphäre ausgeglichen wird.

Stagflation bezeichnet einen Konjunkturzyklus, der von langsamem Wachstum und hoher Arbeitslosigkeit in Verbindung mit Inflation gekennzeichnet ist.

Die vorstehenden Einschätzungen sind die des Autors zum Zeitpunkt der Veröffentlichung und können von den Ansichten anderer Personen/Teams bei Janus Henderson Investors abweichen. Die Bezugnahme auf einzelne Wertpapiere stellt keine Empfehlung zum Kauf, Verkauf oder Halten eines Wertpapiers, einer Anlagestrategie oder eines Marktsektors dar und sollten nicht als gewinnbringend angesehen werden. Janus Henderson Investors, die mit ihr verbundenen Berater oder ihre Mitarbeiter haben möglicherweise eine Position in den genannten Wertpapieren.

 

Die Wertentwicklung in der Vergangenheit ist kein zuverlässiger Indikator für die künftige Wertentwicklung. Alle Performance-Angaben beinhalten Erträge und Kapitalgewinne bzw. -verluste, aber keine wiederkehrenden Gebühren oder sonstigen Ausgaben des Fonds.

 

Der Wert einer Anlage und die Einkünfte aus ihr können steigen oder fallen. Es kann daher sein, dass Sie nicht die gesamte investierte Summe zurückerhalten.

 

Die Informationen in diesem Artikel stellen keine Anlageberatung dar.

 

Marketing-Anzeige.

 

Glossar